2. Sonntag im Jahreskreis – LJ A – Joh 1, 29-43
Liebe Schwestern und Brüder,
immer wieder geschieht es, da lese ich einen Satz oder einen Abschnitt in einem Buch und da spüre ich: Ja, das geht mich an. Da bin ich berührt, da bin ich betroffen und kann nicht anders als innehalten und nachspüren. So ging es mir auch bei dem Wort von der Benediktinerin Kyrilla Spieker, die schon vor etlichen Jahren gestorben ist. Sie schreibt: „ungeprüft geht niemand durchs Leben” sie fährt fort: “Meine Gedanken und Worte werden gewogen, ob sie aus Gott sind, ob sie von meinem Leben gedeckt sind. Je länger ich Christus nachfolge, umso fragwürdiger werde ich mir. Es sind nicht das Alter und der Verschleiß, es ist die Erfahrung der eigenen Erbärmlichkeit, die zunimmt in der Begegnung mit dem großen Erbarmer. Inzwischen habe ich Gott nichts mehr zu bieten als mein Versagen. Nicht mehr Erstrebtes, Erreichbares stehen im Ziel, sondern das Kommen des Herrn, der meine Erlösung vollenden wird. Das macht mich gelassen in aller Armseligkeit.”
Diese Ordensfrau hat vieles erlebt und durchgemacht, hat vieles erlitten und ertragen. Im Blick auf die eigene Verfasstheit, auf das, was sie Gott zu bieten hat, spricht sie sehr offen. Am Ende hat sie Gott nicht mehr anzubieten als ihr Versagen, ihr Armseligkeit.
Viel Ringen und Kämpfen, viele Täler und Schluchten liegen hinter einem langen Leben – und hinter der Erkenntnis, dass der Mensch und mit ihm die ganze Welt einen Erlöser braucht. Doch wie schwer fällt uns das Eingeständnis, dass es nicht nur Großtaten im Leben gibt, nicht nur Lichtvolles, von dessen Schein nur zu viele Augen getrübt werden.
Fördert nicht die Wahrhaftigkeit, sofern wir ihr die Tore offenhalten, fördert sie nicht auch immer wieder unser Dunkel, unsere Schatten, unsere Schuld nach oben? Gewiß, in unserer Gesellschaft zählt das nicht! Hier zählen Glanz und Gloria, Putz und Flitter, Rang und Name.
Aber was ist mit der anderen Seite der Medaille? Was ist denn mit unserer Armseligkeit, mit der wir alleine oft nicht fertig werden, was ist denn mit so mancher Schuld, mit unserem Versagen, das auf unserer Seele liegt, das wuchert, das uns bedrückt und den Lebensstrom lähmt? Was ist mit unseren Abgründen?
Gelingt es, auch diese Seite unseres Lebens in den Blick zu nehmen? - Alleine schaffen wir es wohl kaum. Und es ist bereits ein Geschenk, wenn ich mich einem Freund, einer Freundin offenbaren kann. Aber auch da, so unsere Erfahrung, gelingt es oft nicht bis ins Letzte. Und schließlich müssen wir uns eingestehen: Wir brauchen mehr, mehr als Menschen zu geben imstande sind – bei allem guten Willen. Und es ist ja schon ein großer Trost, jemanden zu haben, der einem zuhört und ein Wort der Hoffnung spricht, ein Licht anzündet. Aber letztlich brauchen wir Menschen Gott, der uns in seiner umfassenden Liebe das zu geben vermag, wonach unsere Seele hungert. Gott, der uns das gibt, wovon im Evangelium die Rede ist. Dort steht der befreiende und erlösende Satz: “Seht, das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt hinwegnimmt.”
Ein Wort, das uns in jeder Messfeier zugesprochen wird als wolle Gott uns mit aller Eindringlichkeit entgegenrufen: “Mensch, verzweifle nicht im Gestrüpp dieser Welt. Verzweifle nicht angesichts deiner eigenen Lebenssituation, deiner Schuld und deines Versagens – denn ich bin bei dir.”
Und wenn wir noch so sehr verstrickt sind in die Maschen und Sünde dieser Welt, und wenn wir uns von Gott abgewandt haben – er wird uns nicht davonjagen, wenn wir aus den Dornen dieser Welt und unseres Lebens die Hände zu ihm erheben und um sein Erbarmen bitten: jetzt, in der Messfeier, im stillen Gebet und nicht zuletzt im Bußsakrament, der Beichte.
ER ist es, der die Grundlage schafft, auf der wir aufbauen können. Vor Gott dürfen die Masken fallen und vor Gott dürfen wir stehen mit allem, was wir sonst verbergen und vergraben, was kein anderer erfahren darf, weil Scham und Scheu uns daran hindern.
Liebe Schwestern und Brüder, nehmen wir diese Chance wahr? Es kann eine Sternstunde unseres Lebens werden, wenn wir unseren Brustpanzer öffnen und Gott hineinlassen. Wenn wir ihn einlassen in das Dickicht unseres Herzens und in die Not unserer Seele. Aber einlassen - einlassen müssen wir ihn.
Und wenn er dann bei uns ist, ganz nahe dran an der Wahrheit unseres Lebens, an dem Lichtvollen und Klaren genauso wie an dem Finsteren und Düsteren, dann werden wir feststellen, wozu Gott in der Lage ist und dass er das geben kann, was kein Mensch zu geben imstande ist – eine Fülle an Erbarmen und Vergebung, die nur der Himmel zu schenken vermag. Eine Kraft, die zum Leben anspornt und zum Leben ermutigt.
“Seht das Lamm Gottes, das hinweg nimmt die Sünden der Welt.”
Die Gegenwart des Gotteslammes, die Gegenwart Christi, macht unsere Seele gesund und heil. Und das soll auch von uns ausgehen – dass wir, die wir in seiner Nachfolge stehen, an der Gesundung dieser Welt, am Heil dieser Welt mitwirken.
Überlegen sie einmal, was dabei ihr Anteil sein kann. Wozu ruft sie der Heiland? Was können sie tun, damit diese Welt etwas heiler wird, damit die Menschen, denen sie begegnen, durch sie Heil erfahren.
Die Liebe zu unseren Nächsten – die soll uns kreativ machen. Der Blick in die Gegenwart, der soll uns helfen, die Nöte der Zeit zu erkennen. Dazu ist aber eines notwendig, und das fasst die verstorbene Nonne Kyrilla Spieker in die Worte: „Ich will das Seil seiner Liebe nicht loslassen und freue mich auf das Schauen von Gesicht zu Gesicht.” Amen.
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