„Sieh, Erd und Himmel, was die Welt/ heut für ein blutig Schauspiel hält, /welch Tyrannei zu sehen. /O Jesus, welche Schmerzen,/ o felsenharte Herzen! –/ desgleichen nie geschehen.“

Liebe Schwestern und Brüder,
mit diesen Worten beginnt ein altes Passionslied aus dem 17. Jahrhundert und es fasst die ganze Tragödie des Karfreitags ins Wort. Ja, es war ein blutiges Schau-spiel, was sich in Jerusalem ereignete. Es war so blutig und brutal, dass es uns heute noch erschaudern lässt, wenn wir uns dieses Geschehen vor Augen halten oder davon hören.
Der Herr hängt am Kreuz: blutig, geschunden und zerfetzt durch die Geißel-hiebe, verletzt durch den schweren Kreuzesbalken, wund und aufgeschlagen vom Fallen und in der Seele gedemütigt durch die sensationsgierige Menge. Sie stehen am Rand der Strasse und gaffen, weiden sich an seinem Schicksal und kosten es aus, einen Menschen leiden zu sehen. Alle Scham haben sie verloren, nichts Edles geht von diesen Menschen aus. Sie stehen im Epizentrum der Zerstörung und der Blutrausch lähmt alles menschliche Fühlen und Empfinden. Jegliches Gespür der Ehrfurcht und des Respekts vor dem Menschen, vor dem Heiligen im Menschen – das ist im entfesselten Zerstörungswillen der Masse verloren gegangen. Und es bestätigt sich das Sprichwort: Wenn einer fällt, fallen alle über ihn her.
O Jesu, welche Schmerzen, o felsenharte Herzen. Der Herr hat es erfahren – am eigenen Leib und in seiner Seele.
Wie traurig und wie tragisch – damals! Wie traurig und wie tragisch – heute!
Denn auch heute leidet Christus in denen, deren Leiber durch Bomben zerfetzt werden; die durch Minen versehrt werden und ein Leben als Krüppel führen;

die bis ins Mark verängstigt und traumatisiert sind durch die unsäglichen Kriege und die darunter leiden, dass der Vater oder die Mutter, dass ein Kind, ein Verwandter, eine Freundin oder ein Freund  - dass sie nie mehr kommen werden.
Das blutige Schauspiel, liebe Schwestern und Brüder, das will auf unserem Erdball kein Ende nehmen und oft genug tragen die westlichen Länder durch Waffenexporte dazu bei. Wie viele sehnen sich nach Frieden, nach einem normalen Leben und stehen doch immer wieder im Karfreitag unserer Zeit.
Vergessen wir sie nicht, die heute bluten, die heute weinen, die heute unter den Wunden ihres Leibes und ihrer Seelen leiden – ob sie in Ägypten leben oder in Syrien, in Afrika oder hier in Europa oder in Australien und Amerika. Sie alle – sie alle sind Geschöpfe Gottes, sie alle haben denselben göttlichen Ursprung.
Auch wir – auch wir mit unseren eigenen Wunden, mit all dem, was unser Leben verdunkelt, mit all dem, was nicht gelungen ist im Leben und uns bis heute belastet – all das dürfen wir heute mit Christus in Verbindung bringen, wenn wir vor IHM in die Knie gehen. Auch unsere Lebenswunden finden ihren Platz im gekreuzigten Herrn.
Heiner Wilmer, ein Priester und Ordensmann unserer Tage, schreibt in seinem Buch „Gott ist nicht nett“ unter der Überschrift „In deinen Wunden berge mich: „Ich stelle mir die Wunden Gottes als Ort vor, in dem ich nichts mehr leisten muss. Ich muss nicht einmal sagen, was mir weh tut. Worunter ich leide. Ich habe für so viele Wunden gar keinen Namen, und ich weiß, dass die Welt mir nicht helfen kann, einen zu finden. Ich glaube, das geht nur in der Geborgenheit, in dem Ort, den die Welt nicht mehr zerstören kann, in den Wunden Gottes. …
Wenn ich die Augen schließe, beginnt dieser Ort vielleicht schon. Während ich es noch ausspreche, bin ich vielleicht schon aufgenommen darin: In deinen Wunden berge mich.“
Liebe Schwestern und Brüder, Jesus Christus steht uns heute auch als der Verwundete vor Augen, als der, der sich für uns hat verwunden lassen.
Wenn wir heute zu ihm kommen und vor dem Kreuz die Knie beugen, dann dürfen wir uns mit unseren Wunden in seine Wunden legen, dürfen bitten und danken, dürfen rufen und flehen für uns und alle Menschen und uns gewiss sein: Heiland, in deinen Wunden darf ich mich bergen, in deinen Wunden darf ich mich aufgehoben fühlen.
In diesem Glauben lasst uns sprechen: In deinen Wunden berge mich. Amen.

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